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Stories – Trends & Technologies

Trends & Technologies – Expertensicht

Röntgen 4.0: Nanostrukturen in Echtzeit analysieren

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Über Antonia Neels

Antonia Neels ist Leiterin des Zentrums für Röntgenanalytik an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa sowie Titularprofessorin an der Universität Freiburg. Aufgewachsen ist sie in der ehemaligen DDR, wo sie kurz nach Mauerfall ihr Chemiestudium mit Bestnoten abschloss. In der Schule hatte sie – nach Russisch – Französisch als zweite Fremdsprache gewählt. Zum Glück. Sonst hätte sie 1991 kaum die Doktorandenstelle in Röntgenkristallographie an der Universität Neuenburg angenommen. Seitdem lebt Antonia Neels in der Schweiz – mittlerweile mit Mann und zwei erwachsenen Söhnen.

Als Leiterin des Zentrums für Röntgenanalytik der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa treibt Antonia Neels neue Methoden der Röntgenanalyse voran. Im Fokus stehen Bildgebungsverfahren für dynamische Prozesse im Nanometerbereich. Diese sind besonders für die Life Sciences zukunftsweisend, für das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Material und Mensch.

Wenn Antonia Neels einen Gegenstand aussuchen müsste, der ihre berufliche Karriere geprägt hat, dann wäre es ein Kristall. “Kristalle sehen nicht nur schön aus, sie haben es auch in sich”, sagt sie. Seit ihrer Forschungsarbeit als Doktorandin an der Universität Neuenburg vor über 30 Jahren beschäftigt sie sich mit der Röntgenkristallographie, einem Verfahren zur dreidimensionalen Strukturanalyse von Kristallen, Kristallstrukturen (wie Silizium) und anderen Molekülarten.

Heute ist Antonia Neels Leiterin des Zentrums für Röntgenanalytik der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa, und immer noch ist sie fasziniert vom “Innenleben” von Materialien. “Neugier altert nicht”, sagt sie. Zum Glück, könnte man anfügen. Denn die angewandte Forschung, die Neels und 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Zentrum für Röntgenanalyse leisten, ist für die Zukunft wichtiger denn je. Die Röntgenanalyse liefert quasi das nötige materielle Wissen um Technologien und Materialien, die das Leben gesünder, sicherer, bequemer und nachhaltiger machen.

Wirksamere Medikamente für eine alternde Gesellschaft? Effizientere Batterien für die Elektromobilität? Nachhaltigere Baustoffe zur CO2-Reduktion? Kleinere Microchips für eine digitalere Welt? Für all das braucht es ein fundiertes Wissen über die molekulare Struktur von Materialien. “Röntgenbeugung und -streuung in Kombination mit einer dreidimensionalen Röntgenbildgebung sind ideal, um Materialien auf ihr Verhalten, zum Beispiel ihre Dehnbarkeit, und auf mögliche Defekte zu untersuchen und sie weiterzuentwickeln”, sagt Antonia Neels. “Die Röntgenanalyse ist heute eine der wichtigsten methodischen Grundlagen für die Entwicklung neuer Materialien."

“Die Röntgenanalyse ist heute eine der wichtigsten methodischen Grundlagen für die Entwicklung neuer Materialien.”

Auf die Methodik kommt es an

Die Weiterentwicklung dieser “methodischen Grundlagen” ist das Kerngebiet des Zentrums für Röntgenanalytik der Empa. Die Kombination verschiedener Röntgenverfahren hat dazu beigetragen, dass das Forschungsteam der Empa und zahlreiche Industriepartner im Zentrum für Röntgenanalytik immer kleinere Strukturen analysieren und sogar dynamische Prozesse in Echtzeit beobachten können. Dabei spielt – neben viel Know-how – auch der technologische Fortschritt eine entscheidende Rolle: präzisere Detektoren, leistungsfähigere Röntgengeräte, schnellere Prozessoren, bessere Software zur Datenanalyse. “Vor 30 Jahren hätte ich nicht einmal davon geträumt, dass wir irgendwann molekulare Interaktionen in Echtzeit werden anschauen und analysieren könnten”, erzählt Antonia Neels. Bis zu fünf Tage brauchte sie in ihrer Zeit als Doktorandin für eine Kristallstrukturanalyse. Auch deshalb begann Neels früh, sich nicht nur für Kristalle und andere Materialien zu interessieren, sondern auch für die Methodik ihrer Untersuchung.

Es war dieses Interesse, das die gebürtige Berlinerin 2008 ans Centre Suisse d’Electronique et de Microtechnique (CSEM) in Neuenburg führte – ein wegweisender Karriereschritt weg von der universitären Grundlagenforschung, hin zur angewandten Materialforschung. Unter Prof. Alex Dommann baute sie am CSEM ein Röntgenlabor auf, um Defekte und Spannungen in Halbleitermaterialien und -bauelementen zerstörungsfrei zu untersuchen und zu testen – beispielsweise Drucksensoren. 2014 übernahm sie in ähnlicher Mission die Leitung des Zentrums für Röntgenanalytik der Empa. Mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen entwickelte sie ein Labor, das Methoden der Röntgenbeugung und Röntgenstreuung mit hochauflösenden Bildgebungsverfahren kombiniert und damit heute europaweit einzigartig ist.

Mensch und Material

Gerade für die Halbleiterindustrie, wo zerstörungsfreie Testverfahren von Kristallstrukturen wie Silizium ein Schlüsselfaktor sind, macht diese Kombination der Methoden Sinn. “Die Kristallographie zur Bewertung von Dehnungen und Defekten in Verbindung mit der Morphologie, also der Visualisierung von eventuellen Rissen und Hohlräumen, birgt grosses Potenzial für ein besseres Verständnis der Vorgänge in Halbleitermaterialien und -bauteilen”, sagt Antonia Neels.

Das Steckenpferd des Zentrums für Röntgenanalyse sind allerdings die Life Sciences, in denen immer wieder die Schnittstelle zwischen Mensch und Materialien ausgelotet wird. Denn wenn beispielsweise Wirkstoffe auf menschliche Zellen treffen, kommt es zu molekularen Reaktionen, zu biodynamischen Prozessen. Und in klinischen Studien will man verstehen: Wie und wo wirkt ein Wirkstoff genau? Und genau hier – bei der Beobachtung dynamischer Prozesse im Nanometerbereich und in Echtzeit – entwickelt die moderne Röntgenanalyse ihr volles Potenzial.